TECHNOSEUM

Wir sind alle von hier

Inszenierungen wie etwa das Stockbett in einer firmeneigenen Unterkunft bei Opel in Rüsselsheim, ein Klassenraum sowie die Inneneinrichtung einer Eisdiele von der Schwäbischen Alb spiegeln die unterschiedlichsten Migrationserfahrungen in Deutschland wider. Die Besucher*innen können sich in diese Lebensgeschichten einfühlen, indem sie an interaktiven Stationen zum Beispiel die Arbeit am Fließband beim Falten eines Papier-Traktors absolvieren, aufs Fahrrad steigen und sich per App in den Alltag eines Lieferkuriers versetzen oder an einer Bilderstation ein Selfie machen und so selbst Teil der Geschichte werden. Im Diskursraum am Ende der Schau kommen nicht zuletzt kontroverse Themen wie Stereotype und Alltagsrassismus zur Sprache.

Bei den mehr als 300 Ausstellungsobjekten handelt es sich in erster Linie um Neuzugänge in die Sammlungen, denn Menschen mit Migrationsgeschichte wurden gezielt in das Ausstellungsprojekt des Museums mit einbezogen. Hierfür knüpfte das Kuratorinnenteam Netzwerke, führte Gespräche, organisierte Workshops und rief dazu auf, Gegenstände beizusteuern — von Möbeln, Werkzeugen oder Zeugnissen bis hin zu Kleidung und Geschirr.

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Marketing für Mannheim

Migration gab es schon immer. Nur ein Beispiel: Der Dreißigjährige Krieg hatte auch Mannheim stark in Mitleidenschaft gezogen. Um die Stadt wiederaufzubauen und zu bevölkern, vergab Kurfürst Karl Ludwig 1652 die sogenannten „Mannheimer Privilegien“, mit denen er gezielt Neubürger*innen anwerben wollte. Die Nationalität dieser „Neigeplackten“ war dabei ebenso egal wie ihre Religionszugehörigkeit. Noch dazu durfte jeder, der wollte, in der Stadt ein Gewerbe betreiben und unterlag dabei keinen Beschränkungen — das war außergewöhnlich zu Zeiten der Zünfte. Um möglichst viele Menschen anzusprechen, ließ Karl Ludwig die Anwerbe-Broschüren ins Französische, Flämische und Niederländische übersetzen. Aus heutiger Sicht eine rundum gelungene Standortmarketing-Aktion. Für Mannheim und die Region waren die Einwanderer ein echter Gewinn, denn viele brachten spezifisches Fachwissen mit, etwa in puncto Tabakanbau und Pfeifenherstellung. Beides entwickelte sich bald zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Auch die Mannheimer Brauerei Eichbaum verdankt ihre Existenz einem Migranten: Ihr Name geht zurück auf die Erteilung der Brauereikonzession an den Wallonen Jean du Chaine im Jahr 1679 — das Wort wird genauso ausgesprochen wie „Chêne“, Französisch für „Eiche“.



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Deutsche Tradition zum Schulanfang

Zum ersten Schultag gehört die Schultüte: Seit etwa 1910 ist in Deutschland der Brauch belegt, die Einschulung mit einer große Papptüte zu zelebrieren, die mit Geschenken und Süßigkeiten gefüllt ist. Wer keine dabeihat, weil man in der Familie diese Tradition nicht kennt, fühlt sich deshalb vom ersten Schultag an ausgeschlossen. Bereits Kinder merken auf diese Weise, dass sie anders sind und nicht dazugehören. Dem Nachwuchs aus Familien mit Migrationsgeschichte geht das besonders häufig so. Bis weit in die 1970er-Jahre wurden Kinder von „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeitern“, wie die Migrant*innen seinerzeit bezeichnet wurden, in Westdeutschland sogar gezielt von ihren Altersgenoss*innen in der Schule getrennt: Sie erhielten muttersprachlichen Unterricht etwa auf Türkisch oder Griechisch. Der Grund: In der Zeit der Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland zwischen 1955 und 1973 ging die Politik davon aus, dass die Einwandererfamilien bald wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. In Sprachkurse und gesellschaftliche Integration wurde deshalb wenig investiert. Die Bundesrepublik sah sich nicht als Einwanderungsland — obwohl sie es schon längst war.



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Mehr als Pizzeria und Nagelstudio

Der Döner-Imbiss, die Änderungsschneiderei und die Eisdiele prägen in Deutschland noch immer die öffentliche Wahrnehmung, wenn es um Menschen mit Migrationsgeschichte und ihre Berufe geht. Das ist ein Klischee, doch woher kommt es? Straßengeschäfte fallen in der Tat im Alltag mehr auf als die erfolgreiche Anwältin, die renommierte Architektin oder der leitende Mitarbeiter bei einem Großunternehmen. Gleichzeitig hatten sich die Berufsperspektiven für Eingewanderte in den 1970er-Jahren fundamental geändert: Waren sie in den 1950ern noch als „Gastarbeiter“ und Angestellte vorrangig für die Industrie angeworben worden, prägten bald das Ende des „Wirtschaftswunders“, die Ölpreiskrise und der Strukturwandel im Bergbau den Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik. Die Folge: Viele Migrant*innen entwickelten eigene Geschäftsideen, vorrangig im Gastgewerbe und im Handel. Mittlerweile haben in Deutschland 20 Prozent aller Unternehmer*innen ausländische Wurzeln. Und immer mehr von ihnen gründen Firmen, die auf Wissen basieren — vom IT-Start-up bis zum internationalen Forschungsunternehmen. Bestes Beispiel ist BioNTech aus Mainz, das Ende 2020 als erste Firma weltweit einen Impfstoff gegen das Coronavirus auf den Markt brachte — und von einem Ehepaar mit türkischer Migrationsgeschichte gegründet wurde.



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Systemrelevante Schwerstarbeit

Dieses Protestplakat kam im Jahr 2020 auf einem Spargel- und Erdbeerhof in der Nähe von Köln zum Einsatz, Erntehelfer*innen protestierten dort gegen ihre schlechte Unterbringung. Bei der Ernte von Spargel, Äpfeln, Radieschen oder Hopfen stehen in Deutschland vor allem Arbeiter*innen aus dem Ausland auf den Feldern: 2018 waren das bundesweit 180.000 Personen. Der Job ist körperliche Schwerstarbeit, und nicht wenige erhalten nach Abzug der Kosten für Reise und Unterkunft weniger als den Mindestlohn. Übrigens: Am Marktstand und im Supermarkt machen die Lohnkosten gut 40 Prozent des Preises für Spargel aus. Wanderarbeit ist eine Form der Migration, die in Deutschland eine lange Tradition hat: So kamen schon im 19. Jahrhundert die sogenannten „Schwabenkinder“ aus alpinen Regionen nach Süddeutschland. Da ihre Familien arm waren und die Berghöfe wenig Ertrag abwarfen, mussten viele Eltern ihre Kinder in die Fremde schicken, wo sie als Hütejungen, Knechte und Mägde arbeiteten. Heute kommen Arbeitskräfte aus den EU-Ländern nicht mehr zu Fuß, sondern mit Reisebussen — und in der Corona-Krise sogar mit dem Flugzeug. Wie wichtig diese Arbeitskräfte sind, zeigte sich nicht zuletzt während des Lockdowns im Frühjahr 2020. Wie man für sie gerechtere Arbeits- und Wohnbedingungen durchsetzt, ist eine bis heute relevante Frage. Denn wer zahlt schon gerne mehr für seine Spargel?


Arbeit & Migration. Geschichten von hier
Große Landesausstellung Baden-Württemberg
13. November 2021 bis 19. Juni 2022
TECHNOSEUM
täglich 9–17 Uhr
www.technoseum.de
Bildnachweis:
TECHNOSEUM, Klaus Luginsland / Leihgeber: Landeskirchliche Bibliothek Karlsruhe (Privilegien) / DOMiD -Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V., Köln (Schild)

TECHNOSEUM

Das TECHNOSEUM ist eines der großen Technikmuseen in Deutschland. Die Entwicklungen in Naturwissenschaften und Technik vom 18. Jahrhundert bis heute sowie der soziale und wirtschaftliche Wandel, den die Industrialisierung ausgelöst hat, sind Themen der Dauerausstellung. Maschinen werden nicht einfach gezeigt, sondern in Ensembles inszeniert, Vorführtechniker erklären Arbeitsabläufe und beantworten Fragen. Selbst aktiv werden darf man in der Experimentier-Ausstellung „Elementa“: Technische Erfindungen lassen sich hier durch eigenes Ausprobieren nacherleben. Mit Sonderausstellungen zu Themen aus Naturwissenschaften, Technik und Gesellschaft ist das Museum zugleich Forum für aktuelle Debatten. Komplettiert wird das Programm durch Vorträge, Workshops und spezielle Angebote für Kinder und Jugendliche.
AdresseTECHNOSEUM // Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim // Museumsstr. 1 // 68165 Mannheim // Telefon: 0621 4298-9 // E-Mail: info@technoseum.de
Öffnungszeitentäglich 9 bis 17 Uhr
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