Heidelberger Stückemarkt

Der Süden ist schrill

› „Zwei Häuser waren gleich an Würdigkeit / durch alten Groll zu neuem Kampf bereit.“ Mit diesen Worten beginnt die berühmteste Liebestragödie der Weltliteratur, William Shakespeares „Romeo und Julia“. Die Kinder zweier auf den Tod verfeindeter Familien verlieben sich unsterblich ineinander und enden im Unglück. So alt der Shakespearsche Stoff auch sein mag, der Konflikt bleibt zeitlos: In Zeiten von Hass und Gewalt kämpft eine unmögliche Liebe um ihr Bestehen.

Zwei Frauen, eine Liebe

Wird die Tragödie um „Romeo und Julia“ von einem koreanischen Ensemble auf die Bühne gebracht, liegt es nahe, die beiden verfeindeten Häuser als Nord- und Südkorea zu interpretieren. Doch so einfach macht es die Theatergruppe Yohangza aus Seoul dem Zuschauer nicht. Nach den einleitenden Worten des Chores betritt eine gutaussehende junge Frau die neonpinke Bühne: Julia. Kurz darauf betritt eine weitere gutaussehende junge Frau die Bühne: Romeo. Zwei Frauen, eine Liebe. Das Drama nimmt seinen gewohnten Lauf. Die Inszenierung ist schrill und bunt, in einem trashigen 80er-Jahre-Stil gehalten. Sie oszilliert zwischen intimen Dialogen und akrobatischen Tanz- und Kampfszenen zu elektronischem Rock vor großflächigen Videoprojektionen. Kein Text, kein Kostüm und kein Requisit verweist in dieser Inszenierung auf den Korea-Konflikt und doch lässt der Gedanke nicht los, dass mit den beiden verfeindeten Häusern, gleich an Würdigkeit, eben doch die beiden Koreas gemeint sind.
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    Marathon-Mann – Die südkoreanische Gruppe MOMent schickt in ihrer Version von Arthur Millers „Death of a Salesman“ Willy Loman 50 Minuten lang aufs Laufband, …
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    … die Gruppe Gruppe Creative VaQi in ihrer Eigenproduktion "Before After" unter anderem die politischen Auswirkungen des großen Fährunglücks von 2014 analysiet.
Für Shakespeares Liebende endet die Tragödie mit dem Tod. Ungewiss hingegen ist die Zukunft der koreanischen Gesellschaft. Recht optimistisch schreibt die Theatergruppe Yohangza in ihrem Programmheft, sie versuche mit ihrer Darbietung von „Romeo und Julia“ die existierenden Grenzen zwischen Reich und Arm, Konservatismus und Progressivismus sowie traditionellen Werten und Individualismus innerhalb der koreanischen Gesellschaft zu überwinden. In diesem Fall blieben die Worte Shakespeares wahr: „Denn niemals gab es ein so herbes Los / als Julias und ihres Romeos.“

Turbokapitalismus auf dem Laufband

Ein herbes Los erfährt auch der Protagonist des Gastspieles „Death of a Man, SALE“ der Theatergruppe MOMent (Medea On Media Entertainment). „Death of a Man, SALE“ ist eine Weiterentwicklung von Arthur Millers „Death of a Salesman“. Der Verkäufer und Familienvater Willy läuft mehr als 50 Minuten lang in seinem Anzug auf einem Laufband. Atemlos folgt er einer gelben Linie und an seiner Seite erscheinen wechselnde Personen, die ihn stützen oder sein Laufen psychisch und physisch behindern. Im Hintergrund wummern sich ständig wiederholende Beats. Es ist die letzte Szene des Originaltexts, in der Willy seinem Tod entgegengeht, die die Gruppe MOMent exzerpiert und zu einem inneren Monolog fragmentiert und dekonstruiert. Es entsteht eine Inszenierung von höchster Geschwindigkeit und Intensität, die das ausbeuterische System eines Turbokapitalismus anklagt.

Tanz statt Text

Adaptionen von westlichen Klassikern sind in der südkoreanischen Theaterszene häufig zu finden. Die radikale Dekonstruktion und Weiterentwicklung des Textes von Miller durch die Gruppe MOMent stellt jedoch eine Ausnahme dar. Oftmals wird die westliche Textgrundlage lediglich um traditionelle Elemente wie Musik und Tanz erweitert und dadurch „koreanisiert“. Neue Dramatik oder auch Stückentwicklungen spielen keine große Rolle auf den koreanischen Bühnen. Der französische Theaterwissenschaftler Patrice Pavis erklärt dies damit, dass das koreanische Theater in seiner Tradition kein textbasiertes Theater, sondern eher tanz- und musikaffin ist.
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    Schriller Mix: Die sechs Musiker von "SSingSsing" bitten mit einer kühne Mischung aus koreanischer Volksliedtradition, Glamrock, psychedelischem Disko-Pop und queerer Glamour-Garderobe zum Tanz.
Die Gruppe Creative VaQi ist eine jener Ausnahmeerscheinungen, die ihre Stücke selbst recherchiert, schreibt und auf die Bühne bringt. Das zum Heidelberger Stückemarkt eingeladene Gastspiel „Before After“ reflektiert, inwiefern ein tragisches, unvorhergesehenes Ereignis Einfluss auf die persönliche, aber auch gesellschaftliche Zeit nehmen kann. Neben individuellen Erfahrungen wird auch die politische Auswirkung des Fährunglücks analysiert, bei dem im Jahr 2014 mehr als 300 Menschen ihr Leben verloren. Zugleich erweitert Creative VaQi den traditionellen koreanischen Theaterbegriff durch ihren experimentellen Umgang mit moderner Technologie.

Zum Auftakt des Gastspielprogramms lädt die südkoreanische Band „SsingSsing“ zum gemeinsamen Tanzen und Feiern ein. Die sechs Musiker präsentieren eine kühne Kombination aus koreanischer Volksliedtradition (Minyo), Glamrock und psychedelischem Disko-Pop — und sind mit ihren queeren Glamour-Kostümen auch optisch ein Erlebnis. ‹




Fotonachweise
Preview: SEOULSTU; Aufmacher: Jung; Silder: Jun.Grey

Heidelberger Stückemarkt

Neben spannenden Produktionen aus einem Gastland Litauen bietet der Heidelberger Stückemarkt aktuelle Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Eine große Bandbreite an künstlerischen Handschriften, die das zeitgenössische Theater prägen. Neue, noch nicht aufgeführte Theaterstücke, gelesen von Schauspielern des Theaters Heidelberg. Theaterautoren von morgen im Wettbewerb um den Autorenpreis. Künstlergespräche, Publikumsdiskussionen und Partys.
TerminFR 20. bis SO 29. April 2018
AdresseTheater und Orchester Heidelberg // Theaterstraße 10 // 69117 Heidelberg
SpielorteTheater und Orchester Heidelberg
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