Schwetzinger SWR Festspiele

Die ganze Wahrheit über Lügen

› Frau Hoffmann, zwei ultimative Ansagen: Ihr letzter Jahrgang in Schwetzingen steht unter dem Motto „Da capo“, der letzte Abend heißt „The whole Truth about Lies“. Ist diese Konstellation ein Zufall — oder ein Statement?
Heike Hoffmann: Nun, ein Zufall ist es natürlich nicht. Ich hatte lange geplant, meine Arbeit in Schwetzingen mit einem Abend zu beschließen, der mit künstlerischen Mitteln aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen aufgreift. Dass Nicola Hümpel dann das Thema „Wahrheit und Lüge“ vorgeschlagen hat, kam mir in idealer Weise entgegen, zumal sich hier inhaltlich auch die Klammer zu unserer Eröffnungsproduktion, der neuen Oper von Lucia Ronchetti, schließt. Auch in „Der Doppelgänger“ nach Dostojewski geht es ja um Wahrheit und Täuschung und den schmalen Grat dazwischen.

„Die ganze Wahrheit über Lügen“ — ein großes Versprechen: Was darf das Publikum erwarten?
Nicola Hümpel: Man kennt den sehr bewegenden, bestürzenden Satz „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“. Diese Feststellung — wahr oder unwahr? — hat bei meiner Entscheidung für das Thema schon vor zwei Jahren eine Rolle gespielt. Wie wir alle wissen, hat sie seither an schrecklicher Aktualität gewonnen. Mit „The whole Truth about Lies“ wollen wir die Lüge nun aber nicht nur in den großen politischen und religiösen Konflikten, sondern auch im kleineren, privaten Bereich untersuchen — vom scheinbar harmlosen Ausweichen vor unangenehmen Konflikten bis zur folgenschweren, tausendfach tödlichen Begründung von Kriegen. Dabei spielt die kleine Unwahrheit im Alltag ebenso eine Rolle wie der Umgang mit Fake News und alternativen Fakten. Auch den atemberaubenden Fortschritt der künstlichen Intelligenz kann man nicht ignorieren, weil er unser Vertrauen in die zerbrechliche Wahrheit schwer erschüttert. Entstehen soll ein Pasticcio aus Barock und Klassik, Neuer Musik und Pop, die wir in navigatorischer Manier zu einer Einheit verbinden. Hinzu kommen selbstverständlich Texte und visuelle Elemente, die das Thema variieren.
  • Kleine Lügen, alternative Fakten – das Berliner Musiktheaterensemble Nico and the Navigators präsentiert … 
  • … bei den kommenden Festspielen die Produk­tion „The whole Truth about Lies“.
Nico and the Navigators schöpfen ihre Stücke aus verschiedenen Quellen, kombinieren Fremdes mit Eigenem, mischen Neues und Altes — ähnelt das der Methode, mit der man ein Festival plant?
Hoffmann: Das habe ich so noch gar nicht gesehen. Aber tatsächlich mag es da eine ähnliche Herangehensweise geben: Eine Idee, musikwissenschaftliche Recherchen, zahllose Gespräche mit Interpreten, Komponisten, Agenturen, potenziellen Mitstreitern — in einem längeren Prozess fügt sich das dann zu einem Ganzen, vieles wird auch unterwegs wieder verworfen. Ich nehme an, das ist bei dir ähnlich, Nico, wobei bei der Vielzahl eurer Produktionen die Schlagzahl natürlich höher ist …

Hümpel: Die Arbeitsweise ist tatsächlich vergleichbar, auch wenn wir für die einzelnen Produktionen jeweils in einer festen Besetzung arbeiten. Das beeinflusst die Mischung auf musikalischer und literarischer Ebene — vom Madrigal bis zur Rockballade, von der Lyrik bis zum Essay. Für die aktuelle Inszenierung wollen wir Material von der Antike bis zu aktuellen Social-Media-Kampagnen nutzen, wir werden mit politischen Statements zwischen Trump und Putin ebenso wie mit KI-Bildern arbeiten. Die freien Assoziationen aber werden immer durch die thematische Klammer zusammengehalten und durch die navigatorische Methode bearbeitet.

Sie holen Nico and the Navigators bereits zum dritten Mal nach Schwetzingen. Welche Rolle spielt dieses Ensemble in der Gesamt-Dramaturgie? Wie findet man die Balance zwischen gesichertem Repertoire und schwerer kalkulierbaren Neuschöpfungen?
Hoffmann: Mir war immer wichtig, nicht nur im klassischen musikalischen Kanon verhaftet zu bleiben oder alibimäßig hier und da mal neuere Werke ins Programm zu nehmen, sondern eine dramaturgisch sinnvolle Mischung von Altem und Neuem zu konzipieren, wo das eine das andere beleuchtet und so ein Mehrwert entsteht. Nico and the Navigators gehen in ihren Produktionen ja noch einen Schritt weiter und bewegen sich souverän nicht nur zwischen Alt und Neu, sondern auch in faszinierender Weise zwischen den Genres. Das einem eher „klassisch“ orientierten Publikum zu bieten, war nicht ohne Risiko, hat sich aber unbedingt gelohnt. Die Resonanz war enorm.

Die erste Zusammenarbeit war ein Gastspiel der „Silent Songs“ nach Franz Schubert. Mit „Force and Freedom“ folgte ein Beethoven-Programm, dessen Titel auch für die Arbeit des Ensembles stehen kann. Welche Rolle spielen Kooperationen wie mit den Schwetzinger Festspielen im Spektrum von „Zwang und Freiheit“?
Hümpel: Für freie Gruppen wie die Navigators ist die vertrauensvolle Arbeit mit festen Institutionen wie den Schwetzinger Festspielen unverzichtbar. Es ist fantastisch, eine finanzielle — aber auch eine ideelle — Unterstützung zu finden und im Dialog nach gemeinsamen Projekten zu suchen. So kann man sich künstlerisch voll entfalten, hat aber gleichzeitig ein konkretes Ziel und einen festen Ort für die Fantasie. Diese Kombination macht mutig und stark!

Wenn’s am schönsten ist … da capo? Was wünschen Sie Schwetzingen für die Zukunft?
Hoffmann: Dass Schwetzingen ein Ort bleibt, wo jenseits des musikalischen Mainstreams mit inhaltlichem Anspruch und auf höchstem Niveau Musik und Musiktheater gemacht, ausprobiert und experimentiert werden kann und wo Künstler und Publikum sich wohlfühlen!

Hümpel: Weiterhin so prägende Intendantinnen oder Intendanten wie Heike Hoffmann, die einen extrem hohen musikalischen Anspruch formulieren und dabei den Spagat zwischen künstlerischem Experiment und den Erwartungen des Publikums beherrschen. Es wäre schön, wenn die Festspiele auch künftig nach neuen Wegen für das Konzert und das Musik-theater suchen und ihren Gästen dafür die entsprechenden Freiräume eröffnen. Das Beispiel ist gegeben, also … da capo?! ‹

The whole Truth about Lies — Musiktheater über Wahrsager und Trugschlüsse
25. Mai 2024, 19 Uhr
Rokokotheater Schwetzingen
Tickets unter www.schwetzinger-swr-festspiele.de
und Tel. 07221 300 100 (Mo bis Fr 10–16 Uhr)


Schwetzinger SWR Festspiele
26. April bis 25. Mai 2024
Schwetzingen, Worms
www.schwetzinger-swr-festspiele.de
Bildnachweis:
Elmar Witt (Nico and the Navigators: Silent Songs)

Schwetzinger SWR Festspiele

Die Schwetzinger SWR Festspiele sind seit 1952 ein internationales Festival der klassischen Musik. Jährlich präsentieren sie im Frühjahr in den historischen Räumlichkeiten des Schwetzinger Schlosses über 50 Konzerte. Ihre Veranstaltungen werden vom Rundfunk begleitet und weltweit gesendet. Neben zahlreichen Konzerten umfasst das Programm auch Oper und Musiktheater, Klanginstallationen und viele SWR2 Sendungen vor Ort. Im Auftrag der Festspiele entsteht jedes Jahr eine Musiktheaterproduktion, mit deren Uraufführung die Saison festlich eröffnet wird.
TerminFR 26. April bis SA 25. Mai 2024
AdresseSchwetzinger SWR Festspiele gGmbH // Hans-Bredow-Straße // 76530 Baden-Baden //Kartentelefon: 07221 300200
SpielorteSchwetzinger Schloss, Dom zu Speyer und Kirche St. Joseph, Speyer
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