Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg

Augen auf, weltweit!

› „Wir lieben Film! Wir wollen die Neugier beim Publikum wecken und Diskussionen entfachen. Deshalb suchen wir Filme, die unsere Zuschauer*innen überraschen und in denen es etwas zu entdecken gibt“, sagt Sascha Keilholz. Der Leiter des Internationalen Filmfestivals Mannheim Heidelberg (IFFMH) sitzt an diesem heißem Tag Anfang August im Festivalbüro, einem hellen Altbau in der Mannheimer Neckarstadt, und erklärt, wie dieses vielfältige Filmprogramm entsteht. „Der Sichtungsprozess ist sehr fluide und läuft das ganze Jahr über, einen Stichtag gibt es nicht.“ Oft werde er Anfang eines Jahres gefragt, was beim nächsten Festival die Themen sein werden. „Das weiß ich natürlich nicht! Die Themen geben ja nicht wir vor, sondern die Filme. Ob es besonders viele Corona-Filme geben wird oder der Western sein Comeback feiert, kann ich nicht voraussagen.“

1.200 bis 1.500 Filme zur Sichtung

Im August jedenfalls steckt das 12-köpfige Programmteam mitten im Prozess des Sichtens und Auswählens. Dazu gehört der physische oder digitale Besuch von wichtigen Festivals und Filmmärkten weltweit. „Der Schwerpunkt unseres Festivals liegt auf den ersten und zweiten Werken von Regisseur*innen sowie auf fiktionalen Filmen. Dennoch sichten wir möglichst breit. Am Ende sind das bestimmt 1.200 bis 1.500 Filme, die wir als Team über das Jahr verteilt angeschaut haben“, schätzt Keilholz. Zusammen mit Programmleiter Frédéric Jaeger wählt er bei den Festivals aus, welche Filme interessant sein könnten. Die Devise lautet: Lieber einen Film zu viel anschauen — und gegebenenfalls nach einer Viertelstunde abbrechen –, als einen Film aufgrund einer Kurzbeschreibung auszuschließen. „Wir betreiben hier Talentscouting: Die Filme laufen bei uns im Wettbewerb und der Hauptpreis ist mit 30.000 Euro im Vergleich mit anderen deutschen Festivals hoch dotiert“, betont Frédéric
Jaeger.

Konkurrenz um Premieren

Die Sichtung auf Festivals beginnt in Turin im November/Dezember. Sundance und das Filmfest in Rotterdam eröffnen das Jahr im Januar, die Berlinale folgt im Februar, Cannes im Mai und Locarno im August. „Wichtig sind für uns auch die Festivals in Toronto, Venedig und San Sebastian, wo einige der besten Produktionen des nächsten halben Jahres ihre Weltpremiere haben. Wir wollen die Europa- oder Deutschlandpremiere dieser Filme exklusiv ergattern“, sagt Keilholz. In Deutschland gibt es rund 430 Filmfestivals, mit denen das IFFMH um solche Premieren konkurriert. „Ich habe den Eindruck, dass 2022 ein starkes Film-Jahr wird“, resümiert Sascha Keilholz. „In Cannes sind ganz neue Stimmen aufgetaucht — Regisseur*innen, die man vorher nicht kannte, die neue Blickwinkel einnehmen, andere soziale Gruppen in den Fokus rücken, ein neues Gender-Verständnis zeigen.“

Ein diverses Team

Um die filmischen Trüffel für das IFFMH zu entdecken, setzt Sascha Keilholz auf ein diverses Team: Daniela Persico besucht viele Festivals und brachte gerade Filmtipps aus Locarno mit. Cathrin Ehrlich sitzt in Frankfurt, Anselm Scherer in Heidelberg. Louise Malherbe aus Paris ist auf arabisches und afrikanisches Kino spezialisiert. Violeta Kovacsics ist beim Auswahlprozess des CICAE Art Cinema Award beteiligt und Expertin für spanische Filme. Hannes Brühwiler ist für die Retrospektive zuständig, Lisa Niederauer und Cécile Tollu-Polonowski für das Kinderfilmfest. Wenn das Programm steht, hat Redakteur Alfred Stumm die Aufgabe, das Programmheft zu produzieren. „Unsere Programmberater*innen nehmen sehr unterschiedliche Perspektiven ein. Die Diversität im Team spiegelt sich auch im Programm wider“, erklärt Frédéric Jaeger, der an diesem Tag via Stream aus Berlin zugeschaltet ist.
Die wichtigsten und größten Filmmärkte sind der European Film Market (EFM) auf der Berlinale und der Marché du Film in Cannes. Um diese Märkte kümmert sich vor allem Programmkoordinator Philipp Schwarz. Auf der Berlinale hat er oft ein sportliches Programm. „Dann treffe ich meine Kontakte im Halbstunden-Rhythmus, damit ich möglichst viele Filmschaffende persönlich kennenlernen und trotzdem auch möglichst viele Filme auf der großen Leinwand sehen kann“, erzählt der Programmkoordinator mit Wiener Akzent, der lässige Weltläufigkeit verbreitet. Damit er sich an all diese Filme und Menschen auch noch Monate später erinnert, notiert er alles penibel. „Da muss man schon einige Tabellen führen“, grinst er.

In ständigem Kontakt mit Filschaffenden aus aller Welt

Über eine Datenbank kommunizieren alle Programmberater*innen im Team. Ersten Überblick verschafft ein Fünf-Sterne-Ranking. „Das dient aber nicht zur Beurteilung der Qualität der Filme, sondern gibt Hinweise darauf, wie gut die Filme in das Programm passen“, erklärt Frédéric Jaeger. Wichtiger als die Sterne sind die Anmerkungen der Sichter*innen zu den jeweiligen Filmen. Zusätzlich zu den Festivals und Filmmärkten stehen die Programmberater*innen im ständigen Kontakt mit Filmschaffenden und Vertrieben aus aller Welt. „Die Suche nach Filmen beginnt eigentlich schon, wenn man das erste Mal hört, dass es einen neuen Film geben soll“, erläutert Jaeger. „Dann kann es immer noch zwei Jahre dauern, bis der Film auch wirklich realisiert ist.“

Darüber hinaus spielen auch die Einsendungen von Filmen eine Rolle. Anfang Mai wird das Onlineportal geöffnet und zwei Monate lang haben die Filmschaffenden die Möglichkeit, ihre Werke einzureichen. „Wir bekommen Jahr für Jahr immer bessere Vorschläge und an denen ‚knabbern‘ wir jetzt noch“, berichtet Jaeger. „Das Sichten schließen wir Ende August ab, um uns dann noch einmal auf die Filme zu konzentrieren, die in Venedig, Toronto und San Sebastian gerade ihre Weltpremiere haben.“

Nach der Auswahl kommt die Logistik

Sobald die Filmauswahl feststeht, fängt die organisatorische Arbeit an: Ist der jeweilige Film auch wirklich rechtzeitig fertig und wann kommt er ins Kino? Haben die Gäste im November Zeit, um vor Ort dabei zu sein? Bei wem liegen die Rechte? All diese Fragen müssen geklärt und anschließend die Logistik geplant werden. „Wir benötigen die Filme als DCP, also Digital Cinema Package. Das ist das aktuelle Abspielformat für Kinos, das die 35-mm-Kopien abgelöst hat. Der Film muss auf den richtigen Server im richtigen Kino hochgeladen werden“, erläutert Jaeger das Vorgehen. Außerdem werden alle Filme deutsch untertitelt. „Das ist unser Anspruch, denn wir wollen Barrierefreiheit und Inklusion ermöglichen“, sagt Jaeger. „Das ist heute nicht mehr selbstverständlich. Viele Festivals beschränken sich aus Kostengründen auf englische Untertitel.“

Am Ende der Programmarbeit steht dann noch eine wahre Herkulesaufgabe: die Erarbeitung des komplexen Screening-Schedules. „Wo zeigen wir warum und wann welchen Film? Hier spielen kuratorische Fragen hinein, aber auch organisatorische, wie wann sind die Gäste vor Ort. Und auch die technischen Voraussetzungen sind nicht in allen Kinos gleich.“ Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass alle Filme in beiden Städten zu sehen sind. Rund drei bis vier Tage kann es schon dauern, bis feststeht, wann welcher Film wo läuft.

Mitte November steht dann die Krönung an: die Festivaleröffnung und die anschließenden zehn Tage, in denen die Menschen in die Kinos strömen und die Ergebnisse der monatelangen Programmarbeit genießen können. Für Sascha, Keilholz, Frédéric Jaeger und das IFFMH-Team ist das der schönste Moment. „Das Publikum und der Austausch mit den Filmemacher*innen über die Filme machen das Ganze lebendig“, sagt Sascha Keilholz. „Wir haben einen Film eine Zeitlang begleitet und auf unserem Festival ist der Moment, in dem wir diesen Film dem Publikum präsentieren. Die Filmemacher*innen haben oft sehr viel hineingesteckt und so ist das für alle ein sehr intimer, fragiler Moment, der in etwas sehr Schönem und Spannendem kulminiert: in der Reaktion des Publikums.“ ‹

Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg
17. bis 27. November 2022
Mannheim: Atlantis, Cinema Quadrat, CinemaxX & Cineplex, Stadthaus N1
Heidelberg: Gloria, Karlstorkino, LUXOR-Filmpalast
www.iffmh.de


Retrospektive: Cinema of Splendour — Fashion im Film

Elegante Abendkleider, abgewetzte Lederjacken, schwarze Sonnenbrillen — die Mode hat die Filmgeschichte geprägt und zu einigen ihrer schönsten Momente geführt. Gleichzeitig dient das Kino seit seinen Anfängen als ein Schaufenster, in dem Kleider als Massenware sowie als Kunstform vorgeführt werden. Die Retrospektive Cinema of Splendour — Fashion im Film blickt quer durch die Filmgeschichte auf Werke, in denen Kostüme eine herausragende Rolle spielen. Um den Exzess und das uferlose Spektakel geht es in dem frühesten Film dieser Retrospektive: Salomé aus dem Jahr 1922 von Charles Bryant und Alla Nazimova ist eine rauschhafte Verfilmung von Oscar Wildes gleichnamiger Tragödie.
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    Dresscode Hollywood – die diesjährige Retropektive widmet sich dem Thema "Mode und Film" mit unter anderem "Salomé" aus dem Jahr 1922 von Charles Bryant und Alla Nazi­-
    mova, …
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    … Peter Weirs "Picnic at Hanging Rock" (1975) oder …
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    "Pink Narcissus" (1971) dvon James Bidgood.
Es ist dabei kein Zufall, dass die Mode gerade im US-amerikanischen Kino von so großer Bedeutung war. Die Studiomogule, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hollywood aufbauten, kamen zum großen Teil aus der Textilindustrie. Entsprechend naheliegend war es, dass sich ihre Filme durch eine opulente Kostümpracht auszeichneten. The Women (1939) steht für diese Extravaganz, die in einer Modenschau gipfelt, die Regisseur George Cukor im Gegensatz zum Rest des Films in Technicolor drehte. Um die Lust am Spektakel und am Aufbrechen der konventionellen Genderrollen geht es bei Pink Narcissus (1971) des Fotografen James Bidgood. Historische Kostümfilme nehmen eine wichtige Rolle in dieser Retrospektive ein. Neben Sally Potters Orlando (1992) wird auch Peter Weirs Picnic at Hanging Rock (1975) über das Verschwinden mehrerer Schülerinnen gezeigt. Außerdem The Handmaiden (2016) von Park Chan-wook, der im Korea und Japan der 1930er-Jahre angesiedelt ist.

Einen letzten Schwerpunkt stellen Filme dar, die vor dem Hintergrund der Modewelt spielen. In Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972) erzählt Rainer Werner Fassbinder von einer erfolgreichen Modedesignerin. Jerry Schatzberg arbeitete in den 1960er-Jahren für Modemagazine und inszenierte Werbeclips, bevor er 1970 mit Puzzle of a Downfall Child (Hauptrolle: Faye Dunaway) sein Debüt als Spielfilmregisseur gab. Einen der schönsten Spielfilme über Mode inszenierte Jacques Becker: Falbalas, 1944 in Paris noch unter deutscher Besatzung gedreht, porträtiert die Pariser Modewel.

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Bildnachweis:
Sebastian Weindel; Filmstill „Salomé“ (1922); Filmstill „Picnic at hanging Rock“ (1975); Filmstill „Pink Narcissus“ (1971);

Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg

Das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg genießt als Forum für junge Talente einen internationalen Ruf. Regisseure wie François Truffaut, Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder, Krzysztof Kieslowski, Jim Jarmusch, Lars von Trier oder später Thomas Vinterberg, Frédéric Fonteyne, Guillaume Nicloux, Derek Cianfrance, Hong Sang-soo starteten in Mannheim- Heidelberg ihre Weltkarrieren. Neben rund 60.000 Besuchern kommen jedes Jahr etwa 1.000 internationale Gäste aus der Filmbranche. Dazu gehören Journalisten, Sales Agents, Verleiher und Produzenten.
TerminDO 17. bis SO 27. November 2022
AdresseIFFMH – Filmfestival Mannheim gGmbH // Kleiststraße 3–5 // 68167 Mannheim // Telefon: +49 621 - 489262-11 // E-Mail: info@iffmh.de
Spielortealle Kinos in Mannheim und Heidelberg, Festival-Lounges im Stadthaus Mannheim und im Karlstorbahnhof Heidelberg
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