Heidelberger Frühling

Das Eigene, das Andere und das Fremde

› „Heimat — das ist da, wo man sich nicht erklären muss, wo man sich geborgen fühlt“, sagt Benjamin Appl. Der junge Bariton weiß sehr gut, wovon er spricht — denn wie viele seiner Musikerkollegen führt er eine Nomadenexistenz par excellence: heute Glasgow, morgen Utrecht, übermorgen London, München, Mumbai. Heimat — das ist oft vor allem das, was ganz weit weg ist.

Sein Programm beim Musikfestival „Heidelberger Frühling“ spürt diesem Gefühl nach. Es geht da um räumliche Heimat, um Menschen, die Heimat ausmachen, um Aufbruch, Heimweh, Pilgerschaft. Dinge, von denen schon Franz Schubert und Johannes Brahms, Edvard Grieg und Max Reger das buchstäbliche Lied singen konnten. Von denen gerade überhaupt zu viele Menschen zu viele Lieder singen können: Menschen, denen von ihrer Heimat nicht viel mehr als das Gefühl geblieben ist — aufgrund von Bürgerkrieg, Armut, und Vertreibung.

Menschenrechte, Demokratie und Meinungsfreiheit sind der Schlüssel

Auch darum ist das Jahresthema des „Heidelberger Frühling“ so virulent: „In der Fremde“ — als Auftakt einer Festival-Trilogie über Motive der Aufklärung. Es greift eine Erfahrung auf, die uns allen gemein ist: Fremdheit — in ihrer Existenzialität und Vielschichtigkeit. Und in ihrer Notwendigkeit, denn ohne das „Andere“, „Fremde“ wäre die Herausbildung einer eigenen Identität schlichtweg nicht möglich. Dem „Anderen“ und „Fremden“ offen zu begegnen ist die Grundlage aufgeklärten Denkens und Handelns. Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, Gleichberechtigung, gesellschaftlicher Fortschritt sind die Schlüssel dazu.
  • Erforschen das Fremde beim diesjährigen “Frühling”: Der Bariton Benjamin Appl …
  • … der persische Cembalist Mahan Esfahani …
  • … der gebürtige Russe Igor Levit …
  • … und der Cellist Isang Enders, Sohn einer Koreanerin und eines Deutschen.
Ähnlich wie Appl mit seinem Liederabend die verschiedenen Facetten von Heimat beleuchtet, zieht sich die produktive Auseinandersetzung mit den Schattierungen von Fremdheit durch das Programm des „Frühling“. Das Kammermusikfest „Standpunkte“ etwa vereint namhafte Künstler, die qua Biografie in mehreren Kulturen zu Hause sind: Lisa Batiashvili, die gebürtige Georgierin, die mit ihrem französischen Mann in München lebt; Mahan Esfahani, der Cembalist aus Teheran, der heute in England wohnt; Igor Levit, geboren im russischen Nischni Nowgorod und als Achtjähriger nach Deutschland übergesiedelt; Cellist Isang Enders, der in Frankfurt als Sohn einer Koreanerin und eines Deutschen zur Welt kam; Uri Caine, der amerikanische Pianist und Komponist, dessen Eltern mit ihm Hebräisch sprachen; die Musiker der Cairo Jazz Station, die aus Portugal, der Türkei, Italien und Ägypten stammen und sich auf die Suche nach der gemeinsamen kulturellen Identität ihrer Heimatländer am Mittelmeer gemacht haben.

Sie alle stellen in Heidelberg ihre Multikulturalitätserfahrungen in verschiedenen Konzertformaten in den Mittelpunkt: In Veranstaltungen unter dem Titel „Erzählungen“ kommen sie darum nicht nur musikalisch zu Wort. In den „Begegnungen“ treffen Kammermusiken aus zwei Kulturen aufeinander; und in den „Erkundungen“ werden die (vermeintlichen) Grenzen der klassischen Musik weit in alle Stilrichtungen geöffnet.
  • Interkulturell: Die Violistin Lisa Batiashvili stammt aus Georgien und lebt mit ihrem französischen Mann in München.
Den Festival-Leitgedanken greift auch der musikalisch- kulinarische Abend „Jerusalem“ auf. Eine Suche nach den Spuren, die die uralte Stadt in der Musikgeschichte und in der Küche hinterlassen hat. Ein Abend, der der Begegnung mit dem Fremden gewidmet ist — eben weil die Geschichte Jerusalems nichts anderes ist als eine permanente Begegnung mit dem Fremden. Das für seine „raffinierte Mischung der Aromen, eine wechselseitige Durchdringung und Bereicherung der Klangwelten“ gefeierte Pera Ensemble unter Leitung von Mehmet C. Yes¸ilçay setzt auf die Begegnung von jüdischen Piyutim, orientalischen Klängen im barocken Gewand, Musik von Alfonso el Sabio, Georg Friedrich Händel, Antonio Vivaldi, Domenico Scarlatti und vielen mehr. Zutaten wie Tahini, Za’atar, Sumach, Kardamom und Hummus liefern anschließend den kulinarischen Konterpart.

Eine Stadt singt

Und „Heidelberg singt“ schließlich, jenes Projekt, das 2016 erstmals rund 500 Sängerinnen und Sänger bewog, Heidelbergs Erbe als Liedstadt an einem Tag neu zu beleben, setzt in diesem Jahr noch stärker auf die Begegnung mit dem und den Anderen, Fremden. Am Sonntag, dem 9. April, wird wieder an zahlreichen öffentlichen und privaten Orten in der ganzen Stadt gesungen — und zwar im Austausch von Musikern mit hiesigen und auswärtigen Wurzeln. Einen Überblick über alle kostenlosen Konzerte gibt eine Karte unter www.hdsingt.de.

Wenn „Heidelberg singt“ dann am Abend mit einem gemeinsamen Singen aller Beteiligten ausklingt, kommt man dabei vielleicht auch auf Heimat zu sprechen — dieses Gefühl, das manchmal einen Ort meint, manchmal einen Menschen, manchmal eine Atmosphäre. Das in Glasgow und London „home“ heißt, in Utrecht „bakermat“, „dahoam“ in München und „Ghar“ in Mumbai. Und vielleicht für manche „Heidelberg“. ‹

Heidelberger Frühling

Der Heidelberger Frühling gilt laut Deutschlandradio als „eines der innovativsten Musikfestivals in Deutschland“ und zieht in über 100 Veranstaltungen mehr als 47.000 Besucher an. Neben hochkarätig besetzten Konzerten, innovativen Produktionen und Formaten gilt ein besonderes Augenmerk des Festivals der mit Heidelberg eng verbundenen Gattung des Liedes.
TerminSA 25. März bis SA 29. April 2017
AdresseInternationales Musikfestival Heidelberger Frühling gGmbH // Friedrich- Ebert-Anlage 50 // 69117 Heidelberg
SpielorteStadthalle Heidelberg und zahlreiche weitere Spielorte in Heidelberg
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