Heidelberger Stückemarkt

Guten Tag, Litauen!

› Die Theaterszene in Litauen ist aktuell von einem Generationenwechsel geprägt, der mit einem Paradigmenwechsel einhergeht: Waren es jahrzehntelang einige wenige starke Regiepersönlichkeiten, die dem litauischen Theater ihren Stempel aufdrückten, macht in jüngster Zeit eine neue Generation experimentierfreudiger Theatermacher*innen auf sich aufmerksam. Ihr Theater ist bunt und oft spartenübergreifend, bodenständig, nahbar und populär und kombiniert Schauspiel mit anderen Kunstformen. Ein Theaterbesuch ist in Litauen nichts Elitäres mehr, sondern gehört zum gesellschaftlichen Alltag. Die Gastspiele, die zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen sind, geben einen Eindruck davon — und von der Vielfalt der litauischen Theaterszene.

10 Kassiererinnen, Supermarkt-Sounds und ein Klavier

„Einen schönen Tag noch!“ — Der Ausspruch, der Kund*innen jeden Tag von den Supermarktkassen entgegenschallt, wird in der Musiktheater-Performance „Have a Good Day!“ zum Programm. Die „Oper für 10 Kassiererinnen, Supermarkt-Sounds und Klavier“ hinterfragt diese Phrase und versucht zu ergründen, was sich hinter aufgesetztem Lächeln und mechanischer Freundlichkeit verbirgt. Welche Lebensgeschichten streifen wir täglich, ohne an ihnen Anteil zu nehmen? „Have a Good Day!“ blickt hinter die freundliche Fassade. Das Publikum erfährt mehr über die Figuren, die sich durch den Alltag schlagen und mit denen wir täglich konfrontiert sind: eine alleinerziehende Mutter, eine Migrantin, eine Vorstadtbewohnerin, eine arbeitslose Kunsthistorikerin. Geschaffen hat die Performance ein Künstlerinnen-Trio, das international schon für Furore gesorgt hat: Für ihre Oper „Sun & Sea (Marina)“ sind Librettistin Vaiva Grainyte˙, Komponistin Lina Lapelyte˙ und Regisseurin Rugile˙ Barzdžiukaite˙ bei der Kunstbiennale 2019 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden.
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    Willkomen im Regenland! – Neben „Have a Good Day“, einer „Oper für 10 Kassiererinnen, Supermarkt-Sounds und Klavier“ (Bild oben) ist in Heidelberg …
    (Bild: Modestas Endriuska)
  • … auch die experimentelle Produktion „Regenland“ des „teatras atviras ratas“ („Theater des offenen Kreises“) in Heidelberg zu sehen.
    (Foto: Dainius Putinas)
Schauer, Schnee, Kälte — Litauen ist nichts für notorische Sonnenanbeter. Das Land trägt die schlechten Wetteraussichten sogar in seinem Namen, denn „lietus“ bedeutet Regen. Davon inspiriert, nennt das „teatras atviras ratas“ — wörtlich übersetzt „Theater des offenen Kreises“ — sein Stück „Regenland“. Es handelt von Litauens dramatischer Geschichte. Das Stück zeigt sehr unterschiedliche Geschichten von Litauer*innen von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, währenddessen und danach, von der deutschen Besetzung und von der Okkupation Litauens durch die Sowjetunion.

Das Prinzip des „offenen Kreises“

Alle Personen und ihre Geschichten basieren auf den Erinnerungen von Großeltern, Eltern, Onkeln und Tanten der Schauspieler*innen, die sie im Lauf der Performance als persönliche Biografien ihrer Figuren erzählen. Um den Eindruck der Authentizität zu steigern, haben die Schauspieler*innen die Freiheit, zu improvisieren, sodass jede Aufführung einen etwas anderen Verlauf nimmt. Der besondere Charakter des Theaterlabors „atviras ratas“ beruht auf den innovativen Theaterprinzipien des Gründers und leitenden Regisseurs der Gruppe, Aidas Giniotis, und umfasst Schauspielausbildung, szenisches Schreiben, Stückentwicklung und Spielweise. In der Performance „Regenland“ kommen die Prinzipien des „offenen Kreises“ besonders gut zur Geltung.

Außerdem werden im Wettbewerb um den Internationalen Autor*innenpreis drei neue Theatertexte aus Litauen vorgestellt: „Identify“ von Ieva Stundžye˙, „Mütter und ihre Söhne“ von Matas Vildžius sowie „Immobiliendrama“ von Gabriele Labanauskaite˙. Ein Gesellschaftspanorama, ein Beziehungsdrama und eine Sozialkomödie — auch hier zeigt sich die eindrucksvolle Bandbreite litauischen Theaters. Wir dürfen gespannt sein! ‹


Neben dem Gastland Litauen präsentiert der Heidelberger Stückemarkt aktuelle Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, die das zeitgenössische Theater prägen. Neue, noch nicht aufgeführte Theaterstücke, gelesen vom Schauspielensemble des Theaters Heidelberg, konkurrieren um den Autor*innenpreis. Traditionell eröffnet das Gewinnerstück des Vorjahrs den Stückemarkt: Diesmal ist es „Das weiße Dorf“ von Teresa Dopler — in einer Inszenierung des gastgebenden Theaters Heidelberg als deutsche Erstaufführung. Das Stück spielt an Bord eines Kreuzfahrtdampfers: Hier entlarvt sich die erschreckende Leere in scheinbar top-erfolgreichen Lebensläufen. Ein augenzwinkerndes Kammerspiel über den Selbstoptimierungswahn unserer Zeit. Nicht verpassen!
Bildnachweis:
Modestas Endriuska

Heidelberger Stückemarkt

Neben spannenden Produktionen aus einem Gastland Litauen bietet der Heidelberger Stückemarkt aktuelle Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Eine große Bandbreite an künstlerischen Handschriften, die das zeitgenössische Theater prägen. Neue, noch nicht aufgeführte Theaterstücke, gelesen von Schauspielern des Theaters Heidelberg. Theaterautoren von morgen im Wettbewerb um den Autorenpreis. Künstlergespräche, Publikumsdiskussionen und Partys.
TerminFR 30. April bis SO 09. Mai 2021
AdresseTheater und Orchester Heidelberg // Theaterstraße 10 // 69117 Heidelberg
SpielorteTheater und Orchester Heidelberg
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