MARCHIVUM

Ein Schatz an Möglichkeiten

› Herr Nieß, Herr Schenk, mal ganz grundsätzlich gefragt: Warum braucht Mannheim eine stadtgeschichtliche Ausstellung?
Ulrich Nieß: Mannheim ist eine sehr geschichtsbewusste Stadt. Denn Zuwanderungsstädte wie Mannheim zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr identitätssuchend sind. Fragt man nach den Mannheimer Ureinwohnern, kommt man bestenfalls in die dritte Generation zurück. Die meisten sind irgendwann hierhergekommen, viele davon sind geblieben und begeistern sich für diese, ihre Stadt. Insofern ist es an der Zeit, dass wir die Möglichkeit bieten, Stadtgeschichte mit der eigenen Familiengeschichte in Verbindung zu bringen. Wir präsentieren Mannheim als realen Lebensraum und stellen Bezüge zur Vergangenheit her, die bis in das Mannheim der Gegenwart wirken. Wir gehen damit der Frage nach: Was sind die Gene dieser Stadt, was die Wurzeln?
Andreas Schenk: Das Interesse der Mannheimerinnen und Mannheimer für die Stadtgeschichte ist sehr groß und es gibt besondere Orte der Identifikation. Damit sind nicht nur Wasserturm und Planken gemeint. Zum Beispiel spielt die Identifikation mit dem eigenen Stadtteil für viele eine wichtige Rolle, was wir auch in der Ausstellung aufgreifen. Daneben ist die über vier Jahrhunderte zurückreichende Stadtgeschichte natürlich extrem spannend — von der Gründung Mannheims als Festungsstadt über den Aufstieg zur Residenzstadt bis hin zur Entwicklung zur Industriestadt. Erwähnenswert sind auch die Katastrophen, die Mannheim überstanden hat. Die Stadt hat es aber immer wieder geschafft, sich zu behaupten und weiterzuentwickeln.

Als Stadtarchiv sitzen Sie an der Quelle, verfügen über einen Schatz an Exponaten und haben die stadtgeschichtlichen Expert*innen bereits im Haus. Neu hinzu kommt nun die Vermittler-Rolle. Sie wollen als Ausstellungshaus möglichst niedrigschwellig eine sehr breite Zielgruppe für Stadtgeschichte begeistern …
Nieß: Wir waren nie ein klassisches Archiv im engeren Sinne. Zum Beispiel haben wir seinerzeit gemeinsam mit den Reiss-Engelhorn-Museen die stadtgeschichtliche Ausstellung im Museum Zeughaus konzipiert. Sie haben aber insofern Recht, dass wir für diese Ausstellung noch einmal neu über Vermittlung nachgedacht haben. Dank der neuen technischen Möglichkeiten müssen wir die Stadtgeschichte nicht mehr nur anhand von ausgewählten Objekten erzählen. Stattdessen haben wir gemeinsam mit dem kanadischen Multimediakünstler Stacey Spiegel und der Berliner Arbeitsgemeinschaft Tatwerk/finke.media eine multimediale Inszenierung entwickelt, die eine Balance findet zwischen dem archivarischen Bedürfnis nach Vollständigkeit und der Dramaturgie einer Ausstellung. Das Ganze wird also sehr dynamisch und extrem unterhaltsam. Deshalb versuche ich auch, den Begriff Dauerausstellung zu vermeiden.

Wie kann man sich die multimediale Inszenierung konkret vorstellen?
Schenk: Wir arbeiten mit vielen Screens, Medientischen und verschiedenen Stationen. Die Besucherinnen und Besucher sollen nicht passiv durch die Ausstellung gehen, sondern sich Themen herauspicken, selber auf Spurensuche gehen. Ein toller Ausgangspunkt dafür ist das große Stadtmodell gleich am Anfang der Ausstellung.

Ein Stadtmodell klingt nach klassischer Stadtgeschichtsausstellung?
Nieß: Das stimmt, ein Stadtmodell ist ein Klassiker und eigentlich in jedem Stadtmuseum zu finden. Meistens sind es wunderschöne Stadtmodelle aus der Zeit um 1800. Bei uns ist das physische Stadtmodell jedoch Ausgangspunkt für eine multimediale Inszenierung. Wir haben ein Modell des heutigen Mannheim bauen lassen, das wir als Projektionsfläche nutzen. Wir projizieren darauf Stadtpläne des 17. Jahrhunderts und reisen zu den Anfängen der Stadt. Wir erzählen, wie sie sich entwickelt hat, lassen die Zerstörungen aufleben und die Glanzzeiten in einem fünfminütigen dreidimensionalen Erlebnis. Neben dem Modell werden auch die Wände in diesem ersten Raum miteinbezogen. So können die Besucherinnen und Besucher mit dieser spektakulären Ouvertüre richtig eintauchen und erleben mit allen Sinnen 400 Jahre Stadtgeschichte im Schnelldurchgang.

Konnten Sie als Experten während der mehrjährigen Konzeptionsphase noch etwas Neues über die Geschichte Mannheims erfahren?
Schenk: Wir haben für die Sektion über das 17. Jahrhundert zum Beispiel die Ratsprotokolle herangezogen, uns gerichtliche Auseinandersetzungen angeschaut und diese ausgewertet. Dabei haben wir viel darüber erfahren, wie die Menschen zusammengelebt haben und was sie bewegt hat. Der Blick in diese Akten zeigt auch, dass es bei aller Vielfalt und Veränderung, die diese Stadt prägen, so etwas wie eine eigene Mentalität gibt, einen bestimmten Typus, der schon ab dem 17. Jahrhundert bei diesen Streitfällen deutlich wird.

Und wie ist dieser Typus?
Schenk: Direkt, offen …

Nieß: Es geht zur Sache.

Schenk: Ja, die Mannheimer sagen, was ihnen nicht passt. Sie sind aber auch versöhnlich und nicht nachtragend. (lacht)

Nieß: Dies ist exemplarisch für das, was wir mit der Ausstellung erreichen wollen. Es geht uns — neben der Präsentation von stadtgeschichtlichen Höhepunkten wie etwa den großen Mannheimer Erfindungen zur Mobilität — vor allem darum, die vielen einzelnen alltäglichen Geschichten zu erzählen. Ein Archiv ist ein Schatz der Möglichkeiten. Diese wollen wir aufzeigen, denn dadurch entsteht Austausch. Und genau das ist unser Ziel: Wir wollen, dass die Menschen über die Ausstellung miteinander ins Gespräch kommen — über ihre Stadt und das Leben hier. ‹

Mannheim — Stadtgeschichtliche Ausstellung
ab 05. November 2021
MARCHIVUM Mannheim, Archivplatz 1
Öffnungszeiten — Di, Do bis So von 10 bis 18 Uhr sowie Mi von 10 bis 20 Uhr
marchivum.de

Hinweis! — Am Eröffnungswochenende vom 05. bis 07. November 2021 ist der Eintritt frei

MARCHIVUM

Hier wird Mannheims Geschichte bewahrt und für die Zukunft gesichert. Dafür wurde Mannheims größter Hochbunker spektakulär umgebaut und der Bau in das Förderprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ aufgenommen. Das MARCHIVUM steht auf drei Säulen: das Archiv mit seinen umfangreichen Sammlungen und Beständen; die Bereiche Forschung, Bildung und Vermittlung sowie Ausstellungsprojekte zur Stadtgeschichte und NS-Zeit.
AdresseArchivplatz 1 // 68169 Mannheim // Tel. 0621 293-7027 // marchivum@mannheim.de
ÖffnungszeitenDienstag, Mittwoch, Freitag 8–16 Uhr // Donnerstag 8–18 Uhr // Feiertags geschlossen
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