Heidelberger Literaturtage

Der Sound des Maghreb

› Auf einem klapprigen Motorrad rasen die beiden jungen Männer durch Kairo, vorbei an zerbeulten Bussen, an Geschäften mit heruntergelassenen Jalousien und an verschleierten Frauen. Der Fahrtwind bläst durch ihre Haare. Die französische Dokumentarfilmerin und Journalistin Hind Meddeb zoomt ihre Kamera für eine ARTE- Reportage nah an die Rapper der Band Electro Chaabi heran. Ein Sinnbild für den Arabischen Frühling, wie der Heidelberger Dichter und Maghreb-Experte Hans Thill findet: „Er ist die Revolte der Jungen, die alles riskieren.“ In Ägypten, aber auch in Marokko oder Tunesien, wo der Selbstmord eines Gemüsehändlers zum Fanal für die Rebellion wurde, prägt die Jugend den Sound der Untergrund-Kultur. Mit Street-Art, Revolutionssongs, Chansons engagées und Gelegenheitstexten wie dem Blog „A Tunesian Girl“ von Lina Ben Mhenni — unter dem Titel „Vernetzt Euch!“ im Deutschen erschienen — setzen sie ihre Existenz auf eine Karte.

Jenseits von Gewalt, Islamismus und Diktaturen

„Arabischer Frühling — was nun?“, lautet folgerichtig der Titel der Podiumsdiskussion, die sich in Heidelberg mit der fragilen Lage in Nordafrika befasst. „Wir wollen zeigen, dass sich der Maghreb nicht nur auf Gewalt, Islamismus und Diktaturen reduzieren lässt“, betont Regina Keil-Sagawe. Die Romanistin und Übersetzerin moderiert gemeinsam mit Hans Thill das Gespräch. Beide haben das Programm des Maghreb-Tages am 22. Juni konzipiert. Eingeladen sind die tunesische Theaterautorin Meriam Bousselmi, der marokkanische Schriftsteller Fouad Laroui, der marokkanisch-niederländische TV-Moderator und Bestseller-Autor Abdelkader Benali sowie die Orientalistin Aicha Berth.

Seit 2007 widmen sich die Heidelberger Literaturtage alle zwei Jahre mit einem Schwerpunkt den Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko. Für Dr. Andrea Edel, Leiterin des Kulturamts der Stadt, ist dies ein Höhepunkt des Festivals. „Es ist ein Alleinstellungsmerkmal im Bezug auf die deutschen Literaturfestivals“, hebt sie hervor. Darüber hinaus steht der Maghreb-Tag für den internationalen Charakter des Festivals, der noch weiter ausgebaut wird. Neben der Literatur aus Tunesien und Marokko präsentieren die Heidelberger Literaturtage dieses Mal die drei anderen „UNESCO Cities of Literature“ Fabriano, Granada und Prag, mit denen Heidelberg vernetzt ist, seitdem die Stadt am Neckar ebenfalls diesen renommierten Titel verliehen bekommen hat.
  • Heidelberger Literaturtage Maghreb arabischer frühling Abdelkader Benali
    Diskutieren bei den Literaturtagen über den Arabischen Frühling und die Folgen: der Bestseller-Autor Abdelkader Benali …
  • Heidelberger Literaturtage Maghreb arabischer frühling Aicha Bert
    … die Orientalistin Aicha Bert …
  • Heidelberger Literaturtage Maghreb arabischer frühling Fouad Laroui
    … der marokkanische Schriftsteller Fouad Laroui sowie …
  • Heidelberger Literaturtage Maghreb arabischer frühling Meriam Bousselm
    … die tunesische Theaterautorin Meriam Bousselm. Gastgeberin der Podiumsdiskussion ist …
  • Heidelberger Literaturtage Maghreb arabischer frühling Regina Keil-Sagawe
    … die Romanistin und Übersetzerin Regina Keil-Sagawe.
Das Faszinierende an der Maghreb-Literatur ist, dass sie zwischen zwei Welten balanciert und seit jeher eine interkulturelle Dimension hat. Die französische Sprache selbst hat nach dem Ende der Kolonisation kaum an Bedeutung verloren. Sie gilt weiterhin als Vehikel der westlichen Modernität. Dennoch hat sich vor allem in Marokko auch die Berbersprache behauptet und zur Schriftsprache entwickelt. Das Hocharabische ist genauso wie das Französische ein Sprach-Import, der im Mittelalter in den Maghreb gelangte. „Das Besondere am maghrebinischen Französisch ist“, so Regina Keil-Sagawe, „dass in der Syntax, den Lauten und der Aussprache das Arabische mitschwingt.“ Seine Literatur zeichne sich durch Erzähl- und Fabulierfreude und vielfältige Rückgriffe auf das arabo-berberische Kulturerbe aus.

Ein Beispiel dafür sind die Bücher von Fouad Laroui. In Heidelberg präsentiert er seinen neuen Roman „Die alte Dame in Marrakesch“. Darin hält er den Europäern auf humorvolle Weise ihre Klischees vor. Im Zentrum steht ein gut situiertes Ehepaar aus Paris, das sich einen Riad, ein traditionell marokkanisches Haus, kauft und im Zuge dessen einige interkulturelle Klippen und Abgründe umschiffen muss. Wie seine Protagonisten lebt auch der 59-jährige Autor in beiden Kulturen. Er ist in Marokko geboren, hat eine Laufbahn als Ingenieur hinter sich und Wirtschaftswissenschaften studiert. Heute unterrichtet er französische Literatur und Philosophie in Amsterdam.

Grenzgänger zwischen den Kulturen

Und auch die anderen Protagonisten der Diskussionsrunde sind typische Grenzgänger zwischen der europäischen und der nordafrikanischen Kultur. Die Theaterautorin Meriam Bousselmi etwa hat in Tunis Regie und Dramaturgie sowie Jura studiert. Im Augenblick promoviert sie zur Inszenierung von Gerechtigkeit und dem Verhältnis von Justiz und Theater. In ihren Werken greift sie Tabuthemen wie Jungfräulichkeit auf und legt sich mit den korrupten Eliten an. Für ihre gesellschaftskritischen und politisch ambitionierten Stücke wird sie in ihrer Heimat angefeindet. „Wir erleben eine radikale Veränderung des Lebens in Tunesien“, beklagt sie in einem Interview. Es komme vor, dass Islamisten die Schauspieler von der Bühne vertrieben, um zu beten. Im Augenblick lebt Bousselmi dank eines DAAD-Stipendiums in Berlin, eine Rückkehr ins Land der Jasminrevolution wäre für sie gefährlich. Vor Kurzem wurde ihre Aufenthaltsgenehmigung um drei weitere Jahre verlängert, sodass sie in Deutschland als Dramaturgin arbeiten und ihre Promotion abschließen kann.

Ein differenziertes Bild

Autor und TV-Moderator Abdelkader Benali ist schon mit vier Jahren mit seiner Mutter aus Marokko in die Niederlande ausgewandert. Von seinen Eltern lernte der mittlerweile 41-Jährige die Sprache der Berber, seine Romane, Theaterstücke und Essays schreibt er indes auf Niederländisch. Zum Star avancierte er in den Niederlanden aufgrund seiner Tätigkeit als TV-Moderator und Fernsehkoch. In Heidelberg stellt er die Video-Auswahl „Maghreb.Visionen“ vor, die sich künstlerisch mit der Region auseinandersetzt.
„Es ist wichtig“, betont Regina Keil-Sagawe, „hierzulande ein differenziertes Bild zu zeigen, um dem Schwarz-Weiß-Bild von den Frauen anmachenden Marokkanern in der Kölner Silvesternacht etwas entgegenzusetzen.“ Zu diesem anderen Bild gehören Intellektuelle und Schriftsteller, aber eben auch die freiheitsliebende Jugend wie die Rapper von Electro Chaabi. ‹


Maghreb-Tag der Heidelberger Literaturtage im Aufbruch
22. Juni 2017
Spiegelzelt am Universitätsplatz

feeLit – Internationales Literaturfestival Heidelberg

Das Internationale Literaturfestival Heidelberg ist ein unverzichtbarer Bestandteil der UNESCO-Literaturstadt Heidelberg. Das Festival, das seit 1994 stattfindet, bietet eine Vielfalt an literarischen Zugängen und Formaten. Neben Lesungen von deutschsprachigen und internationalen Autoren werden Autorengespräche, performative Formate, Ausstellungen, Musikveranstaltungen und Workshops angeboten. Verlage, Buchhandlungen, Büchereien präsentieren Autoren und Neuerscheinungen.
TerminMI 21. bis SO 25. Juni 2017
AdresseStadt Heidelberg // Marktplatz 10 // 69117 Heidelberg //Telefon: +49 (0)6221 5834859 // E-Mail: feeLit@Heidelberg.de
SpielorteSpiegelzelt auf dem Uniplatz und Universität
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