MARCHIVUM

Zwischen Hochseil und Autohof

› Ein Mann im leinenen Anzug — mit dem Rücken zum Betrachter steht er in schwindelnder Höhe. Sein Stab, mit dem er das Gleichgewicht auf dem dünnen scheinbar ins Nichts führenden Seil hält, durchschneidet die Bildkomposition in der Horizontalen. Wir blicken mit diesem Hochseilartisten auf eine Menschenmenge, kleine schwarze Punkte auf einem Platz, und in die Ferne auf eine Stadt, die noch deutlich in Trümmern liegt. Die Aufnahme, von der hier die Rede ist, stammt aus dem Jahr 1949 und zeigt den Hochseilartisten Alfons Traber über dem Mannheimer Marktplatz. Nur eine, wenn vielleicht auch die spektakulärste der Aufnahmen, die noch bis Ende Mai im MARCHIVUM zu sehen sein werden.

Einblicke in den Alltag

Ein wahrer Schatz ist dem MARCHIVUM mit dem Nachlass von Maria (1920–1998) und Hans Roden (1904–1977) zugefallen: „Die Bilder wurden zuvor noch nie ausgestellt“, erklärt Kurator Michael Jendrek. Unter dem Titel „Alltagswelten einer Industriestadt“ präsentiert das Haus der Stadtgeschichte die Schwarz-Weiß-Fotos: „Das Augenmerk lag weniger auf prominenten Ereignissen als auf Alltäglichem“, berichtet Jendrek.

Die Bilder fangen das Stadtbild zwischen gestern und morgen ein: Spuren des Krieges als Ruinen in der Innenstadt, genauso wie das Aufblühen der Wirtschaft als endlose Karosserie-Reihen im Daimler-Werk. Daneben sind es aber vor allem die Menschen, ihr Arbeits- und Freizeitleben, die die Fotografien lebhaft als Schnappschüsse einfangen: rastende Fernfahrer am Autohof, Damen bei einer kurzen Verschnaufpause während des Freistilringkampfs. Rührend, atmosphärisch, unbeschwert sind diese Aufnahmen, darüber sollen aber auch die Biografien der Urheber nicht vergessen werden, die das MARCHIVUM recherchiert hat.

Schwierige Biografien

In den 1930er-Jahren trat Hans Roden als Herausgeber antikommunistischer Propaganda in Erscheinung. „Die wenigen Informationen über seinen Werdegang lassen auf gute Kontakte zur nationalsozialistischen Herrschaft schließen“, erklärt Kurator Jendrek. Durch die Spruchkammer als „unbelastet“ eingestuft, konnte Roden mit seiner „Roden-Press“ eine neue Existenz als freier Journalist im Nachkriegs-Deutschland aufbauen. 1947 heiratete er die Mannheimer Kaufmannstochter Maria Volz, die in der Agentur ihres Mannes Aufgaben übernahm. Das Fotografieren brachte Maria sich 1950 selbst bei. Fortan steuerte sie zahlreiche Aufnahmen bei. „Es sind fast keine schriftlichen Quellen vorhanden, die Aufschluss über Lebensläufe und Arbeitsweise des Paares geben. Deshalb stellte die Aufarbeitung des Fotobestands eine besondere Herausforderung dar“, erklärt Jendrek. Jenseits aller biografischen Fakten sprechen die Bilder aber für sich — und vom Nachkriegsleben in einer deutschen Großstadt. ‹

Alltagswelten einer Industriestadt. Fotografien von Maria und Hans Roden
bis 31. Mai 2020
MARCHIVUM, Mannheim
www.marchivum.de
Tipp! — Infos zum Begleitprogramm finden Sie auf der Website

MARCHIVUM

Hier wird Mannheims Geschichte bewahrt und für die Zukunft gesichert. Dafür wurde Mannheims größter Hochbunker spektakulär umgebaut und der Bau in das Förderprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ aufgenommen. Das MARCHIVUM steht auf drei Säulen: das Archiv mit seinen umfangreichen Sammlungen und Beständen; die Bereiche Forschung, Bildung und Vermittlung sowie Ausstellungsprojekte zur Stadtgeschichte und NS-Zeit.
AdresseArchivplatz 1 // 68169 Mannheim // Tel. 0621 293-7027 // marchivum@mannheim.de
ÖffnungszeitenDienstag, Mittwoch, Freitag 8–16 Uhr // Donnerstag 8–18 Uhr // Feiertags geschlossen
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