Schlösser & Gärten Hessen

Ochsentour ins Mittelalter

› Wer sich dem Dorf nähert, zuckt erst einmal zusammen. Die beiden Ochsen, die auf einer Wiese weiden, sehen fremd und ungewöhnlich aus. Ihr silbergrau glänzendes Fell, ihre mächtigen Hörner und ihr relativ kleiner Wuchs lassen sie wie aus einer anderen Zeit wirken. Auch wenn David und Darius hier ganz selbstverständlich herumtrotten, ist der erste Verdacht richtig: Es handelt sich bei den beiden um Vertreter der alten und fast ausgestorbenen Schweizer Rinderrasse namens Rätisches Grauvieh. Sie zeigt wie kaum eine andere Rasse, wie im Mittelalter Hausrinder ausgesehen haben könnten.
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    Blick ins Mittelalter: Im Freilichtlabor Lauresham, das auf dem Gelände des UNESCO-Weltkultuerbes Kloster Lorsch liegt, erleben die Besucher ein sorgsam rekonstruiertes Mittelalter – von den Gebäuden …
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    … über das Vieh …
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    … bis hin zu Gerätschaften, Werkzeugen und Schmuck.
Das Beispiel von David und Darius veranschaulicht, wie Wissenschaftler vorgehen. Sie begnügen sich nicht damit, die Geschichte auf der Grundlage der Funde aufzurollen. Sie wollen mehr. Sie schlüpfen gleichzeitig in die Rollen von Detektiven und Schöpfern mit dem Ziel, die Vergangenheit zu neuem Leben zu erwecken. Dieses Anliegen haben auch Mitarbeiter des Freilichtlabors Lauresham: Dessen Häuser wurden anhand der Grundrisse und Pfostenlöcher rekonstruiert, die Forscher bei ihren Ausgrabungen entdeckten. Dabei gilt das Prinzip „Versuch und Irrtum“. Was die archäologischen Handwerker zimmern oder schnitzen, wird stets in der Praxis getestet. Zieht der Rauch aus den Schornsteinen ab oder taugt der nachgebaute Pflug wirklich zum Umgraben des Ackers?

Leben wie vor 1.200 Jahren

Das Freilichtlabor Lauresham ist die idealtypische Rekonstruktion eines frühmittelalterlichen Zentralhofes. Auf einer Fläche von 4,1 Hektar entstand zwischen 2012 und 2014 ein Ensemble aus Wirtschafts-, Wohn- und Stallbauten sowie dazugehörigen Wiesen, Weiden, Gärten und Ackerflächen. Heute liegt das Dorf wie ein Zeuge aus ferner Zeit unterhalb des Klosters Lorsch. Ein Zaun umschließt die mit Reet und Holz gedeckten Häuser. Drinnen wird fleißig experimentiert.
So arbeitet das Ochsengespann auf dem Acker. Es wird gewebt und Stoff gefärbt. Regelmäßig nimmt auch die rekonstruierte Schmiede ihren Betrieb auf — und zwar genau so wie vor 1.200 Jahren. Im Moment entsteht gerade ein neues Haus. Wie auch die anderen Bauten wird es ausschließlich mit den in der damaligen Zeit zur Verfügung stehenden Mitteln errichtet. Es soll später die Werkstatt eines Knochenschnitzers beherbergen.
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    David oder Darius? Die beiden Ochsen, die in Lauresham grasen, gehören der alten und fast ausgestorbenen Schweizer Rinderrasse Rätisches Grauvieh an. und zeigen, wie im Mittelalter Hausrinder ausgesehen haben könnten.
Ein besonderes Augenmerk verdient auch der Gemüsegarten. „Die Auswahl der Pflanzen folgt der Krongüterverordnung Karls des Großen“, versichert Claus Kropp, Leiter des Freilichtlabors Lauresham. Die „Capitulare de villis“ gilt als die erste Land- und Wirtschaftsordnung des Mittelalters. Sie beschreibt unter anderem, wie Obst, Gemüse und Wein zu ziehen sind. Für Kropp ist der Wert des Freilichtlabors innerhalb des didaktischen Gesamtkonzepts der Unesco-Weltkulturerbestätte Kloster Lorsch nicht hoch genug einzuschätzen. Mit ihm könne es gelingen, auf einfache und spielerische Weise mit herrschenden Klischees über das „dunkle Mittelalter“ aufzuräumen und zu zeigen, dass sich dieses in vielen Aspekten gar nicht so sehr von unserer heutigen Zeit unterscheide und zugleich doch fremd bleibe.

Außerdem vermittelt das Freilichtlabor eine Idee davon, wie die Macht zur Blütezeit des Klosters Lorsch verteilt war. Denn Lauresham ist als Zentrum eines kleinen Grundherrschaftsverbandes konzipiert: Der Hof war zugleich Lebensmittelpunkt einer der frühmittelalterlichen Oberschicht angehörigen Familie und deren unfreien Hörigen, aber auch Sammelpunkt für entfernt gelegene Besitzungen und die von dort stammenden Abgaben.

Von der Nordsee bis Graubünden

Es waren Familien wie die für Lauresham fingierte, die im achten und neunten Jahrhundert zu den wichtigsten Schenkern des Lorscher Nazariusklosters gehörten und die eine Ausdehnung des Grundherrschaftsverbandes von der niederländischen Nordseeküste bis ins Schweizer Graubünden ermöglichten. Dabei konnten über Schenkungen an das Kloster angeschlossene Höfe wie das fiktive Lauresham oft wichtige Funktionen innerhalb des Abgaben- und Frondienstsystems übernehmen.

Doch auch ohne diesen historischen Hintergrund bietet Lauresham eine spannende Reise in die Geschichte der Region. David und Darius lässt das übrigens alles kalt. Sie trotten weiter auf der Weide umher und grasen vor sich hin, wie es schon ihre Ebenbilder vor mehr als tausend Jahren getan haben. ‹



Infos zum Freilichtlabor Lauresham
Während der Saison 2016 (19. März bis 30. Oktober) ist das Freilichtlabor Lauresham nach Buchung für geführte Gruppen (ab 20 Personen) geöffnet. Gruppenführungen zu individuellen Zeiten sind buchbar unter der Nummer 06251-51446 oder via info@kloster-lorsch.de. Führungen in Fremdsprachen sind möglich.

Für Einzelbesucher gibt es die Möglichkeit, auch ohne Anmeldung an öffentlichen Führungen teilzunehmen: Dienstag bis Freitag jeweils um 11, 13, 15 und 17 Uhr sowie Samstag und Sonntag stündlich zwischen 10 und 17 Uhr.

Hunde dürfen mit Rücksicht auf die in Lauresham lebenden Nutztiere leider nicht mitgebracht werden.

Infos unter: www.kloster-lorsch.de

Staatliche Schlösser und Gärten Hessen

Das UNESCO-Weltkulturerbe Kloster Lorsch ist das bedeutendste Bauwerk, das die Hessische Schlösserverwaltung in der Metropolregion Rhein-Neckar betreut. Sein Freilichtlabor Lauresham zieht wie auch der romantische Staatspark Fürstenlager in Bensheim-Auerbach Jung und Alt an. Außerdem gehören auch die Burgen Auerbacher Schloss und Hirschhorn zum Einzugsgebiet der Hessen sowie das Erbacher Schloss mit den gräflichen Sammlungen und dem Deutschen Elfenbeinmuseum. Ein weiteres Kleinod ist die Einhardsbasilika in Michelstadt-Steinbach, eines der letzten Beispiele authentisch erhaltener karolingischer Architektur.
AdresseStaatliche Schlösser und Gärten Hessen // Schloss // 61348 Bad Homburg v.d.Höhe // Telefon: 06172 9262-0 // E-Mail: info@schloesser.hessen.de
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